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Um die Jahrhundertwende waren die Wohnverhältnisse in Luzern prekär – selbst für einen grossen Teil der Mittelschicht. Schon früh formierten sich deshalb Wohnbaugenossenschaften. Zunächst in einem kleinen Rahmen, doch nach dem Ersten Weltkrieg boomte der genossenschaftliche Wohnungsbau. Auf der Himmelrichmatte entstand eine der grössten Wohnsiedlungen der Stadt Luzern.
Der wirtschaftliche Aufschwung und der gesellschaftliche Wandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überforderten die Wohnbautätigkeit in Luzern. Zwar florierte der Wohnungsbau, doch konnte er nicht Schritt halten mit der Bevölkerungsentwicklung. Allein zwischen 1888 und 1900 stieg die Einwohnerzahl um 44 Prozent von 20 000 auf 29 000. Besonders gross war die Zuwanderung von Arbeitskräften, die meist der Mittel- oder Unterschicht angehörten.
Hinzu kam ein Heiratsschub, ausgelöst durch das neue Eherecht von 1874. Es führte – gegen den vehementen Widerstand der katholischen Kirche – die Zivilehe ein und beseitigte die meisten Ehehindernisse (wie Armut oder «Mangel an Moral»), die häufig der Willkür der Kirche unterworfen waren. In den katholischen Kantonen führte dies zu einer starken Zunahme der Eheschlüsse. 1870 waren in Luzern nur 33,8 Prozent der über 15-Jährigen verheiratet, 1880 waren es 42,1 Prozent.
Nach dem ersten Weltkrieg verschärfte sich die Wohnungsnot, hinzu kam die Hyperinflation der Kriegsjahre mit Teuerungsraten von 11 bis 25 Prozent. Während des Krieges wechselten in Luzern bis zu 10 000 Menschen, getrieben von Geldnot, jährlich die Wohnung. Oder sie suchten Unterschlupf in Notwohnungen, die teilweise in Hotels eingerichtet wurden – so auch im Hotel Helvetia an der Waldstätterstrasse. Häufig lebten nicht nur zwei oder mehr Generation aus derselben Familie in einer Wohnung, sondern zwei oder drei verschiedene Familien.
Eines der Hauptprobleme war die Wohnhygiene. «Egal wie feucht, eng oder dunkel – jedes Kellerloch konnte noch als Wohnung vermietet werden», fasste es eine Quelle zusammen. 1897 war fast ein Sechstel der Wohnräume im Untergrundquartier feucht, nur 17 Prozent der Toiletten hatten eine Wasserspülung. In den Arbeiterquartieren starben fünf Mal mehr Leute an Tuberkulose als beispielsweise im Hof-Quartier.
Familien vermieteten Zimmer an «Schlafgänger» (Männer, deren Familie zu den Eltern der Frau gezogen war und die in der Nähe des Arbeitsorts schliefen). Dies war aus Sicht der Behörden auch eine sittliche Gefahr für Kinder und Jugendliche.
Bereits um die Jahrhundertwende formierte sich eine Hygienebewegung, die sich nicht nur der Trinkwasserversorgung und Abfallentsorgung annahm, sondern auch den Alkoholismus bekämpfte und das «gesunde Wohnen» in den Mittelpunkt der alltäglichen Hygienebemühungen stellte. Es war eine Initiative des gebildeten Bürgertums: Ordnunghalten, Lüften, Reinigen, Trennen der Schlafräume nach Geschlechtern, ebenso von Eltern und Kindern, Abtrennen von Küche und WC. Sie hatte nur ein Problem: Sie erreichte die Unterschichten nicht.
Eigentlich hatten die Behörden schon früh die Mängel erkannt. 1864 richtete sich das städtische Baugesetz gegen die «Bewohnung von neuen, noch feuchten Gebäuden»; 1872 wurde eine Bewilligungspflicht für den Bezug von Neubauten eingeführt. Sie war – wie aus den Quellen hervorgeht – wirkungslos.
1913 wurden die Mindestgrössen von Räumen geregelt: Sie mussten eine Höhe von 2,5 Metern aufweisen, Wohn- und Schlafräume mit einer Fläche von weniger als 8 Quadratmetern waren nicht gestattet. Ebenso wurde 1913 erstmals ein eigener Abort für jede Neubauwohnung gefordert – mit einem «fäulnissicheren Boden» und mit Wasserspülung. Fenster, die sich nicht öffnen liessen, waren nicht gestattet.
Eine städtische Wohnbaupolitik ist in Luzern bis in die Zwanzigerjahre nicht auszumachen – trotz der gewaltigen Probleme für einen breiten Teil der Bevölkerung. Der kommunale Wohnungsbau stand zwar schon 1893 und 1895 auf der politischen Agenda des Stadtrates. Doch weigerte sich das Stadtparlament, 25 bis 30 Wohnhäuser im Gopplismoos (zwischen Rosenberg und Rotsee) zu bauen und drei Parzellen im Säliquartier zu erwerben. Einmal passte die Lage nicht, einmal der Preis.
1919 wehrte sich der Stadtrat gegen ein Volksbegehren der SP für den gemeindeeigenen Wohnungsbau. Er war der Meinung, die Wohnungsnot sei von den Industriebetrieben in den Agglomerationsgemeinden verursacht. Es sei deshalb nicht die Aufgabe der Stadt, das Problem zu lösen. Er anerkannte aber die Dringlichkeit des Problems und machte einen Gegenvorschlag, der als Grundlage für die städtische Wohnbauförderung bis in die Dreissigerjahre diente: Er wollte den privaten und genossenschaftlichen Wohnungsbau sowohl mit Subventionen als auch mit Bürgschaften und Darlehen unterstützen.
Die staatliche Wohnbauförderung – auch der Bund und der Kanton beteiligten sich zunächst an der Finanzierungsprogrammen – führte von 1924 bis 1935 zu einem regelrechten Bauboom. Jährlich entstanden mehr als dreihundert Wohnungen, was den Bedarf um fünfzig Wohnungen überstieg.
Wie gross das Engagement der Stadt war, zeigen die Zahlen: Mittelstandwohnungen wurden mit 5 bis 10 Prozent der reinen Baukosten subventioniert, Arbeiterwohnungen sogar mit 15 bis 25 Prozent. Zusätzlich wurden Zweithypotheken in der Höhe von 20 bis 25 Prozent der gesamten Anlagekosten übernommen, hinzu kamen Bürgschaften für Hypothekardarlehen.
Entscheidend für die Genossenschaftsbewegung in Luzern war die Gründung der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) im Jahr 1924. Die erste Ausgabe des ABL-Mitteilungsorgans erschien im März 1928. Damals zählte die ABL schon über 800 Mitglieder
Von der staatlichen Förderung profitierte vor allem die Idee des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Exemplarisch ist das erste Projekt der »Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern» (ABL), die Himmelrich-Überbauung an Neuweg und Bleicherstrasse (Himmelrich 1) von 1925. Dank der Unterstützung von Stadt und Banken beschränkte sich der Eigenkapitalbedarf auf lediglich zehn Prozent.
Die erste Wohnbausiedlung der ABL an der Bleicherstrasse und dem Neuweg. Aufnahme von 1927.
Nicht nur in Luzern führte die Wohnbauförderung zu einem Boom von Genossenschaftsgründungen. Während es 1910 in der Schweiz erst 38 Wohnbaugenossenschaften gab, waren es 1920 bereits 138. 1928 stieg die Zahl auf über 280, vorwiegend in den Städten.
Wie überall in der Schweiz gingen die ersten Genossenschaftsbewegungen von den Eisenbahnern aus. So auch in Luzern: 1891 schlossen sich Angestellte der Gotthardbahn (offiziell die Luzerner Sektion des Vereins Schweizerischer Eisenbahnbeamter und -angestellter) zusammen und gründeten die «Genossenschaft für billige Wohnungen» auf der Geissmatthöhe. 1893 standen fünf Doppelwohnhäuser mit 39 Drei- und Vierzimmerwohnungen; die Gotthardbahn hatte Darlehen von fast der Hälfte der Baukosten geleistet, Subventionen gab es damals noch nicht.
Erst fast zwanzig Jahre später wurde die zweite Wohnbaugenossenschaft in Luzern gegründet – wiederum von Eisenbahnern. 1910 entstand die «Eisenbahner Baugenossenschaft» (EBG). Finanziert wurde sie mit Mitteln aus der Pensionskasse der SBB (die erst seit 1902 als Staatsbahn organisiert war); von 1912 bis 1914 erstellte sie das Eisenbahnerdorf mit 48 Ein- und Zweifamilienhäusern auf Obergeissenstein. Heute ist die EBG – mit 377 Wohnungen – die zweitgrösste Genossenschaft in der Stadt Luzern. Nur die ABL mit mittlerweile mehr als 1700 Wohnungen ist grösser.
1924, als die ABL gegründet wurde, war sie erst die fünfte Genossenschaft in Luzern. 1919, auf dem Höhepunkt der Wohnungsnot, war die «Gemeinnützige Baugenossenschaft Luzern» entstanden. Sie erstellte und verkaufte 36 Einfamilienhäuser auf der Friedberghöhe. Diese waren zu dreissig Prozent von Bund, Kanton und Stadt finanziert. Einfamilienhäuser baute auch die «Baugenossenschaft SBB-Beamter» (seit 2001: «Baugenossenschaft SBB-Mitarbeiter»). Sie war 1923 als Antwort auf die Schaffung der SBB-Kreisdirektion II in Luzern gegründet worden. Für die Angestellten wurden 26 Häuser an der Ruflisberg-, Sonnenberg- und Bergstrasse gebaut – mit Subventionen und Hypotheken der öffentlichen Hand von mehr als 90 Prozent. Noch heute leben ausschliesslich SBB-Mitarbeiter in den Häusern.
Kurz nach der Eröffnung der ersten Himmelrich-Überbauung sind die Balkone mit Blumen geschmückt. Aufnahme von 1927.
Mit der ABL kam eine politische Note in den Wohnungsbau, denn hinter der ABL stand kein Unternehmen wie die Staatsbahnen. Es ging der ABL auch nicht um den Bau von Einfamilienhäusern, sondern von Mietwohnungen «zu möglichst billigen Preisen» oder, wie die Kritik lautete, von «Mietskasernen». Hinter der Genossenschaft standen nicht zuletzt der Mieterverband und die Sozialdemokraten.
In den Zwanzigerjahren wurde die Wohnbaupolitik – auch wegen der Aktivitäten von Mieterverband und ABL – als ein linkes Anliegen verstanden. Dies rief unweigerlich die politischen Kontrahenten auf den Plan. 1929 entstand deshalb die «Wohnbaugenossenschaft Luzern» (WBG), die Liberale und Exponenten des Gewerbeverbandes zusammenbrachte. Sie verschrieb sich explizit der «bürgerlichen Lohnarbeiterschaft». Später kamen die liberale «Genossenschaft für Arbeiterwohnungen» (Gefa), die katholisch-konservative «Soziale Baugenossenschaft Luzern» (SBL, heute nur noch SBL Wohnbaugenossenschaft Luzern, weil «sozial» impliziere, dass Sozialwohnungen angeboten würden) und die «Liberale Baugenossenschaft Sternmatt-Tribschen» dazu. Von den grossen Wohnbaugenossenschaften ist nur die «Eisenbahner Baugenossenschaft» (EBG) nicht auf eine politische Partei ausgerichtet.
Eine interessante Feststellung zu den politischen Auswirkungen der Genossenschaften auf die Politik und Gesellschaft macht übrigens Edgar Rüesch, alt Stadtarchivar von Luzern, in seinem «Inventar der neueren Schweizer Architektur» von 1991. Dort beschreibt er die Entwicklung der Pfarrei St. Paul. Sie bestand seit 1912 und war geprägt von Genossenschaftssiedlungen. Dort, so Rüesch, «entwickelte der Luzerner Katholizismus seine sozial-karitative Seite mit einem Ausbau der Arbeiter- und Jugendseelsorge». Der erste Pfarrer, Carl Ignaz Bossart (1876–1953), war zudem Gründer und Präsident der städtischen Caritas.
Luzern gehört zu den prominentesten Genossenschaftsstädten der Schweiz. 14 Prozent der Wohnungen unterstehen einem gemeinnützigen Zweck. Mehr sind es nur in Biel, Zürich und Thun.
Von den 75 Wohnbaugenossenschaften, die seit 1891 gegründet worden sind, bestehen heute noch 29. Die meisten Genossenschaften verstehen sich als Selbsthilfeorganisationen für ihre Mitglieder. Dabei ist das Hauptziel, Wohnraum zu vermieten und der Spekulation zu entziehen. Nur vereinzelt sind es Eigenheimgenossenschaften (wie die «Baugenossenschaft SBB-Mitarbeiter») oder Genossenschaften, die Wohnraum erstellten und verkauften (wie die «Gemeinnützige Baugenossenschaft Luzern» oder die «Baugenossenschaft Pilatusblick», die auf die Initiative eines Quartiervereins zurückging – des Quartiervereins Hirschmatt-Neustadt-Biregg).
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